Rezensionen
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Im Allgemeinen beschränkt sich die öffentliche Wahrnehmung von Ludwig II. auf das Klischee
des verrückten Märchenkönigs, der Wagner verehrte und Steuergelder an Fantasiebauten
verschwendete. Im Grunde trifft diese Beschreibung auch auf Luchino Viscontis Ludwig zu.
Doch der italienische Regisseur hat sein Porträt des bayerischen Monarchen nicht auf populäre
Stereotypen reduziert, sondern die reale Gestalt zum Anlass genommen, das Scheitern eines
ästhetischen Traumes in stilvollen Bildern zu zelebrieren.
Der Film setzt ein, als Ludwig im Alter von 19 Jahren zum König gekrönt wird. Man lernt ihn
als scheuen jungen Mann kennen, der von guten Absichten geleitet sich der Verantwortung
seiner Position stellen will. Doch die Routine des Regierens interessiert ihn kaum, denn ihn leitet
die Vision einer besseren Welt, die er in den Werken Wagners erkannt zu haben glaubt. Dieses
Ideal der Schönheit bestimmt sein Denken und Handeln so sehr, dass er sich bald der Realität
entfremdet fühlt. Dennoch ist er kein Narr, der seine Umgebung ignorieren würde. Er bemerkt
sehr wohl, dass der vermeintliche Freund Wagner in erster Linie an seinem Vermögen
interessiert ist. Auch die Intrigen seiner geliebten Kusine Sissi von Österreich durchschaut er.
Aber er ist kein Mensch, der in der Welt handeln will. Stattdessen gibt er sich in der
Abgeschiedenheit seiner Schlösser seinem Traum von Schönheit hin -- und verliert jeden Halt in
der Wirklichkeit. Dass seine Flucht aus der Gegenwart zugleich die Abkehr von menschlicher
Gemeinschaft und moralischer Verantwortung bedeutet, will er nicht anerkennen. Daher
verkommt er zunehmend zur physischen wie psychischen Ruine: Der schöne Mann mit den
schönen Gedanken degeneriert zum Zerrbild seines Ego-Ideals.
Obwohl Visconti in Ludwig II. eine Geschichte des Verfalls erzählt, feiert er Ludwigs
ästhetische Utopie in jeder einzelnen Einstellung. Denn auch wenn er den ewigen Widerspruch
zwischen Stil und Substanz zum Thema macht, bemüht er sich um eine jeder Realität enthobene
Eleganz. Visconti wollte Ludwig nicht als fehlgeleiteten Träumer bloßstellen, sondern der
psychotischen Bedingungslosigkeit seines Idealismus Tribut zollen, während er zugleich mit
analytischer Klarsicht die Inkompatibilität seiner Vision mit einem erfüllten Leben in der Welt
darstellt. Die Wagner-Inszenierungen, die Ludwig so sehr liebte, sind im Film allerdings nicht zu
sehen. Wesentlich für Viscontis Projekt war lediglich die Inszenierung, der Ludwig sein eigenes
Dasein unterworfen hat. Im Medium des Lebens war sie zum Scheitern verurteilt, im Medium
des Films triumphiert sie in all ihrer morbiden Erhabenheit.
--René Classen